Über Karl Heinrich Ulrichs


Gerhard Hoffmann



"In öder Wüste tönt meine Stimme...




...wie Memnons Säule der Morgenröte entgegen." Mit diesem Satz beschließt Karl Heinrich Ulrichs (1) am 4. Mai 1868 in Würzburg seine siebente Schrift über die mannmännliche Liebe (2): Memnon. Eingeleitet hatte er sie mit den Sätzen: "Ich, Numa Numantius, Verfasser der Schriften "Vindex", "Inclusa", "Vindicta", "Formatrix" und "Ara spei", habe 1863 erklärt: die Fessel der Pseudonymität, der ich bei Herausgabe jener Hefte mich unterwarf, würde ich ehestens zerreissen. Heute öffne ich das Visier."




I.



Sechs Jahre zuvor begann er im Alter von 37 Jahren zunächst innerhalb seiner Familie sein öffentliches "Coming-out". Er sei es, so schreibt er an seine Verwandten, seinen Schicksalsgenossen schuldig. "Auch drängt es mich meinerseits selbst hervorzutreten gegenüber all den Demütigungen, die man mir bisher auferlegt hat und denen ich irgend etwas anderes nicht entgegenzusetzen weiss."
    Seine Briefe zirkulieren unter den Verwandten, werden mit ablehnenden Kommentaren versehen, nehmen paradigmatisch das Resultat seines Kampfes vorweg. Seine Schwester Ulricke schreibt am 15. Dezember 1862: "Eine Verhandlung des jedenfalls unerquicklichen Gegenstandes nun gar vor dem Publikum würde mir widerwärtig sein, und wie ich meine, auch Karls Interesse eher gefährden als fördern." Am 3. Januar 1863 bemerkt sein Onkel: "Ich kann nicht beurteilen, inwiefern Deine Ausführungen im Obigen gegründet sind, aber es betrübt mich, dass Du nicht ablässest, lieber Karl, etwas zu entschuldigen, was nach meiner Ueberzeugung n i c h t zu entschuldigen ist."




II.



Welche Kluft der Isolation und des Unwissens Karl Heinrich Ulrichs übersprang, zeigt der Brief, den er am 22. September 1862 an Ulricke schreibt:
    "Du frägst, ob das dritte Geschlecht sich auch untereinander liebe? Auf diese Frage war ich nicht gefasst; ich hatte sie mir noch nicht gestellt. I c h habe n i e m a l s Liebe empfunden zu einem Uranier. Ich habe erst sehr wenige gesehen. Für unmöglich halte ich ein gegenseitiges Liebe-Empfinden nicht."
    Angelehnt an den Namen der Göttin Urania, die Pausanias als Schutzgöttin der Männer bestimmte, welche sich erotisch anderen Männern zugeneigt fühlen, prägt Ulrichs den Begriff "Uranier" oder "Urning", um der "Widernatürlichkeit" der Sodomie auszuweichen.




III.



Schon während des Briefwechsels mit seinen Verwandten hatte Ulrichs die Grundzüge seiner Ideen über Homosexualität (3) und deren gesellschaftlicher Verfolgung formuliert. Seiner Familie zuliebe nennt er sich in seinen ersten Veröffentlichungen Numa Numantius.
    Zwei wesentliche Aspekte seiner Argumentation sind die Thesen von der "weiblichen Seele im männlichen Körper" und vom "Dritten Geschlecht". Obwohl gerade die bestehende heterosexuelle Gesellschaftsstruktur die Homosexuellen aussondert, versucht er das Phänomen der Homosexualität mit seiner Idee des "geistigen Hermaphroditismus" in dieselbe Gesellschaft zu integrieren: ""Der geschlechtliche Dualismus, welcher ausnahmslos in jedem menschlichen Individuum im Keim vorhanden ist, kommt in Zwittern und Uraniern nur in höherem Grade zum Ausdruck, als im gewöhnlichen Mann und im gewöhnlichen Weibe."
    Ulrichs stellt den Normenkatalog der Gesellschaft nicht in Frage, sondern wendet ihn auf die Homosexuellen an. Er verfasst eine komplizierte Nomenklatur, mit deren Hilfe er die Homosexuellen je nach "Weiblichkeitsgrad" einzubürgern versuchte.
    Seine Gedanken resümiert er in beinahe jeder Schrift: "Der Fundamentalsatz, den ich aufstelle, und auf den ich mein ganzen System aufbaue, ist der Satz: Die Natur ist es, die einer zahlreichen Klasse von Menschen neben männlichem Körperbau weibliche Geschlechtsliebe gibt, d. i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern." Damit glaubt er, das "Räthsel der Homosexualität" gelöst zu haben.




IV.



Befangen in kulturell geprägten Vorstellungen von "männlich" und "weiblich", verliebt in den heterosexuellen Mann, war für Ulrichs die Unterdrückung und Verfolgung der Homosexuellen nicht etwa Resultat einer patriarchalen Struktur, sondern ein Irrtum der Gesellschaft, der der naturwissenschaftlichen Aufklärung bedurfte: "Ist es noch länger zu dulden, daß ihr, lediglich auf Grund eines naturwissenschaftlichen Irrtums, absichtlich und systematisch darauf ausgeht, tausende euerer Mitmenschen Ehre und Lebensglück zu zertreten und zu zerstören."
    Die heterosexuelle Majorität der Männer habe kein Recht, die menschliche Gesellschaft ausschließlich heterosexuell zu determinieren. Weder bei der Frage, was naturgemäß sei, noch bei der Frage, was moralisch oder allgemein menschlich erlaubt sei, gebe es eine quantitative Lösung zugunsten der Mehrheit: "Für uns Urninge ist somit lediglich unsere eigene Natur maßgebend, nicht die eure. Nach unserer eigenen Natur verlangen wir nun aber auch beurteilt zu werden."
    Wie leicht aber die Natur des "Dritten Geschlechts" immaterialisert werden kann, ahnte Ulrichs selbst, wenn er das "Recht der Übermacht" der Heterosexuellen als "Recht der Gewalt" identifiziert.




V.



Von seinen Schriften, den "Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe" (4), die eine Auflage zwischen 1000 und 2000 Exemplaren erreichen, werden "Vindex", "Inclusa", "Gladius furens" und "Memnon" wegen Unsittlichkeit beschlagnahmt, aber wieder freigegeben. Ulrichs wird in der Presse für geistesgestört gehalten, seine Publikationen "aller Sittlichkeit Hohn sprechend" denunziert. Nach der Freigabe seiner Bücher setzt er es durch, in verschiedenen Tageszeitungen Erwiderungen auf die diffamierenden Artikel zu veröffentlichen.
    Diese Reaktionen sowie Leserbriefe und Rezensionen seiner Bücher schildert er in sogenannten "Vorberichten" zu seinen fortlaufenden Schriften. Dort verfasst er auch eine Chronik der Selbstmorde, Erpressungen und Verurteilungen wegen Homosexualität. Dort berichtet er auch von der finanziellen Unterstützung durch seine "Schicksalsgenossen" in ganz Europa, mit der er seine Publikationen bezahlt. Dort klagt er auch, dass "die grösseren Massen der Urninge" wenig Sinn für seine Bestrebungen haben. An sie richtet er sich schon 1864 mit der Aufforderung: "Als Urninge sollen und müssen wir auftreten. Nur dann erobern wir uns in der menschlichen Gesellschaft Boden unter den Füßen, sonst niemals."




VI.



Ein wesentliches Ereignis in Ulrichs' Einzelkampf gegen die Diskriminierung der Homosexuellen war sein Auftreten am 29. August 1867 auf dem Deutschen Juristentag in München.
    An diesen hatte er den Antrag gerichtet: "Der Juristentag wolle es für eine dringende Forderung der gesetzgeberischen Gerechtigkeit erklären, ...daß angeborene Liebe zu Personen männlichen Geschlechts nur unter denselben Voraussetzungen zu strafen sei, unter welchen Liebe zu Personen des weiblichen Geschlechts gestraft wird". Obwohl sein Antrag der herrschenden bayerischen Gesetzgebung (5) entspricht, wird er von der zuständigen Deputation des Juristentags unterdrückt.
    In München findet Ulrichs den Mut (6), "Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wutblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete." Er steigt "mit hochklopfendem Busen die Rednerbühne hinan" und legt Rechtsverwahrung gegen die Unterdrückung seines Antrags ein.
    Schon während seiner Rede wird Ulrichs mehrmals unterbrochen. Ohne auf den Inhalt seines Antrages eingehen zu können, muss er seine Rede wegen des großen Tumultes abbrechen. Nach einer längeren Pause rechtfertigt ein Mitglied jener Deputation deren Beschluss: "Der Antrag ist, wenn man will, unterdrückt, ja. Aber wir haben ihn beseitigen zu sollen geglaubt: Einmal weil er mit den bestehenden Gesetzen im Widerspruch steht. Und dann, weil er die Schamhaftigkeit verletzt."
    Trotzdem resümiert Ulrichs dieses Ereignis positiv, da endlich einmal die Norm des Schweigens gebrochen wurde: "Es ist endlich einmal, offen und laut Zeugnis abgelegt worden für der urnischen Liebe zertretenes Recht." Die Kampfstellung sei nun eine andere geworden, da nun die Homosexuellen ihren Verfolgern sichtbar gegenüberstehen.




VII.



Die folgenden Schriften Ulrichs beschäftigen sich mit den kommenden Strafgesetzentwürfen des Norddeutschen Bundes, des Deutschen Reiches und dem österreichischen Gesetzesentwurf. Doch seine Hoffnungen werden nicht erfüllt. Im Gegenteil. Die Zeiten für die Homosexuellen wurden eher trüber.
    Am 24. März 1870 träumt er angesichts der österreichischen Schwulenverfolgung von Konspiration: "Die Grausamkeit des österreichischen Gesetzes wütet noch immer gegen unsre armen Brüder. Viele dieser unglücklichen Opfer werden fort und fort in die Kerkermauern geschickt. Wir sind indess glücklich genug, von Zeit zu Zeit einige dieser Verurteilten ihren Bedrückern zu entreissen. Vor einigen Tagen sollte N. N. in den Kerker gebracht werden, als wir das Glück hatten, ihn zu retten. Er befindet sich jetzt auf bayrischem Boden. ... Er ist in Sicherheit! Vorladung, Urteil, Haftbefehl, Steckbrief und den ganzen schauerlichen Marterapparat haben wir in einer Schachtel den Herren Mende-Mandelblüh zugeschickt und diese Gelegenheit ergriffen, sie wissen zu lassen, wie wenig wir uns fürchten und wie sehr wir ihre unmenschlichen Gesetze verabscheuen." Und er träumt weiter: "Hineinziehen aber in unser Komplott werden wir alle Anhänger der Menschlichkeit, des Fortschritts der Wissenschaft, des Rechtsstaats und der Freiheit, auf dass die Verfolgung der Natur, auf dass die Anwendung eines ruchlosen Gesetzes lahm gelegt werde."




VIII.



Doch die Realität der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 beschert auch Bayern den § 175. Vergeblich fordert Ulrichs, der von Hannover nach Bayern emigriert war, die bayerischen Abgeordneten in Berlin auf, sich gegen die Verschärfung des Paragraphen zu verwenden. Als er erkennen muss, wie wenig Widerhall seine Flugschriften und Broschüren finden und wie gering die Unterstützung seiner Schicksalsgenossen bleibt, wandert er ein Jahr nach seiner letzten Schrift "Critische Pfeile", die 1879 in Stuttgart erscheint, zu Fuß nach Italien. Dort beschäftigt er sich nicht mehr mit der homosexuellen Frage. Bis zu seinem Tod 1895 gibt er eine angesehene lateinisch geschriebene Zeitschrift "Alaudae" heraus. Sein Grab befindet sich in L'Aquila, der Hauptstadt der Region Abruzzen.




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  1. 28. August 1825 - 14. Juli 1895

    Geboren auf Gut Westerfeld bei Aurich/Ostfriesland, gestorben in L'Aquila, Abruzzen, Italien.

    Karl Heinrich Ulrichs, "der erste Schwule der Weltgeschichte" (Volkmar Sigusch), studierte von 1844 - 1847 Jura in Göttingen und Berlin.

    Der preisgekrönte Jurist (Goldmedaille der juristischen Fakultät zu Berlin für seine wissenschaftliche Abhandlung de pace Westphalica) arbeitete nach seinem Studium als Amtsassessor im Königreich Hannover. Nachdem 1854 gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen wider-natürlicher Unzucht eingeleitet wurde, quittierte er den Staatsdienst.

    Danach war er unter anderem als Privatsekretär, später dann als Journalist, Lyriker und Novellist sowie als anerkannter Latinist tätig.


  2. Die Modernität Ulrichs zeigt sich in seiner Wortschöpfung "mannmännliche Liebe", die er als erster verwandte - für eine Liebe, die lange Zeit keinen Namen kannte.

    Er war auch der erste, der zum Entsetzen beziehungsweise zur Belustigung seiner Zeitgenossen, die staatliche und soziale Anerkennung der "urnischen" Geschlechtsliebe und die Öffnung der Ehe für Homosexuelle forderte.


  3. Die Begriffe homosexuell, Homosexuelle, Homosexualität werden in diesem Artikel, den ich im Dezember 1976 schrieb (veröffentlicht in: Schwuchtel Nr. 6, Winter 1977), der leichteren Verständlichkeit wegen benutzt. Zu Ulrichs Zeiten waren sie noch unbekannt.

    1868 prägte Karl Maria Kertbeny (eigentlich Karl Maria Benkert) in einem Brief an Ulrichs zum ersten Mal die Termini "Homosexualismus/Homosexualität", die er 1869, allerdings anonym, zum ersten Mal öffentlich in einem Offenen Brief an den damaligen preußischen Justizminister Leonhardt verwandte. - Erst 50 Jahre später fanden sie ihren Weg in die Umgangssprache.


  4. Ulrichs veröffentlichte als erster eine "moderne Theorie der Homosexualität" (Volkmar Sigusch). Seine "Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe" umfassen 12 Schriften, die er zwischen 1864 und 1879 veröffentlichte. - Ein Werk mit über 1.100 Seiten, das er am 29. März 1879 mit den Worten abschloss:

    "Meine wissenschaftlichen Gegner sind meist Irrenärzte. So z. B. Westphal, v. Krafft-Ebing, Stark. Sie haben ihre Beobachtungen gemacht an Urningen, welche sich in Irrenanstalten befanden. Geistig gesunde Urninge scheinen sie nie gesehn zu haben. Den veröffentlichten Ansichten der Irrenärzte folgten die übrigen."

    1. Vindex, Social-juristische Studien über mannmänn-liche Geschlechtsliebe. (1864)
    2. Inclusa, Anthropologische Studien über mannmänn-liche Geschlechtsliebe. (1864)
    3. Vindicta, Kampf für Freiheit von Verfolgung. (1865)
    4. Formatrix, Anthropologische Studien über urnische Liebe. (1865)
    5. Ara spei, Moralphilosophische und sozialphilo-sophische Studien über urnische Liebe. (1865)
    6. Gladius furens, Das Naturrätsel der Urningsliebe und der Irrtum als Gesetzgeber. Eine Provokation an den deutschen Juristentag. (1868)
    7. Memnon, Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings. (1868)
    8. Incubus, Urningsliebe und Blutgier. Eine Erörterung über krankhafte Gemütsaffektion und Zurechnungs-fähigkeit [Zum Kriminallfall v. Zastrow]. (1869)
    9. Argonauticus, Zastrow und die Urninge des pietistischen, ultramontanen und freidenkenden Lagers. (1869)
    10. Prometheus, Beiträge zur Erforschung des Natur-rätsels des Uranismus und zur Erörterung der sittlichen und gesellschaftlichen Interessen des Urningtums. (1870)
    11. Araxes, Ruf nach Befreiung der Urningsnatur vom Strafgesetz. An die Reichsversammlungen Nord-deutschlands und Oesterreichs. (1870)
    12. Critische Pfeile, Denkschrift über die Bestrafung der Urningsliebe. An die Gesetzgeber. (1879)


  5. Das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (1813) orientierte sich an Napoléons Code Pénal (1810): Sodomie wurde zwar moralisch verurteilt, aber strafrechtlich nicht verfolgt.


  6. "Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, dass ich am 29. August 1867 zu München den Mut fand. ...Ja, ich bin stolz, dass ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoss in die Weichen zu versetzen." (Gladius furens, Seite 11)


Anmerkungen, Gerhard Hoffmann, Dezember 2009


Ehrungen (nach Wikipedia)